Český a slovenský zahraniční časopis  
     
 

Červen 2009


Gegen Mythen und einseitige „Wahrheiten“ - „Náš směr“ und die tschechische Geschichtsschreibung

Wolf Oschlies

Wenn Tschechen sich mit neuerer Nationalgeschichte befassen, dann schwanken sie zwischen Selbstmitleid („unsere Opfer“) und Selbstüberschätzung („unser Widerstand“). Zudem mehren sich Publikationen in gewissem Selbsthaß, etwa 2000 das Buch „Mnichovský komplex“ (Der München-Komplex) von Jan Tesař. Ursprünglich war es nicht zur Veröffentlichung bestimmt – nun steht vor allen Augen, daß Tesař die tschechoslowakische Verteidigungspolitik nach 1930 als „katastrophale Idiotie“ empfindet und der gegenwärtigen tschechischen Historiographie „totale Inkompetenz“ bescheinigt.

Seit November 2008 besteht das Internet-Portal „Náš směr“ (Unsere Richtung, http://nassmer.blogspot.com), dessen Geschichtsbeiträge durch stilistische Selbstironie und inhaltliche Selbstkritik angenehm auffallen. Alleiniger „Macher“ ist Lukas Beer, 1972 in Tschechien geboren, später in deutschsprachigen Raum heimisch gewesen. Die partiell aggressive Sprache seines Portals erklärt er als bewusst „provozierend für die auf Vaterlandsgefühle getrimmten tschechischen Ohren“, die inhaltliche Ausrichtung als Attacke gegen den „herrschenden und untragbaren Zustand in der tschechischen Meinungsbildung“, was das Verhältnis zu Deutschen und speziell Sudetendeutschen betrifft.

In seinem Bestreben kooperiert Beer mit prominenten Historikern wie Franz Chocholatý-Gröger und Tomáš Krystlík und hat sein Portal mit anderen vernetzt (www.bruntal.net, www.cs-magazin.com), deren Publikationen jenseits herrschender Meinungen seit Jahren ein guter Begriff sind. Hier bildet sich ein „Fundus“ an neuartiger Geschichtsforschung, der gerade im Frühjahr 2009, als die Tschechen des vor 70 Jahren erzwungenen „Protektorats Böhmen und Mähren“ gedachten, erstaunliche Auswirkungen auf Kongresse und Ausstellungen zeigte.

Was „Náš směr“ veröffentlicht, muß und will Tschechen „wehtun“. Da bringt es ständig tschechische Originaltexte aus Presse und Publizistik des Protektorats, die alle im Tenor gehalten sind, daß es „uns relativ gut geht“, im Vergleich mit anderen ringsum. Da wird der tschechische Mythos von den Leiden der „Zwangsarbeit“ im Reich erledigt: Tschechen galten als „Reichsbürger“, wurden weitaus besser als Russen, Polen, Ukrainer behandelt. Da wird in boshafter Detailliertheit die alltägliche „Normalität“ des Protektorats bis zum Schluß dokumentiert – genau wie tschechischer Eifer bei deutschen Wintersammlungen oder Totenfeiern. Welche Tschechen wollen das noch hören?

„Náš směr“ hat ein Lieblingsfeindbild, Präsident Beneš (den es gnadenlos als Marionette Stalins vorführt), und ein Lieblingsthema, die verheerenden Folgen der Vertreibungen Deutscher. Die Vertreibungen selber hat uns Tomáš Staněk schon früher in akribischer Fülle geschildert, aber die Schlußfolgerungen von „Náš směr“ sind beherzigenswert neu: Über drei Millionen Deutsche zu vertreiben, bedingte den „kompletten ökonomischen und kulturellen Verfalls der Nachkriegs-Tschechoslowakei“ – sie hätte das „Boomland“ Europas werden können, aber eine katastrophal verfehlte Neubesiedlung des Sudetenlands machten sie arm und „östlicher“. Umgekehrt verhalfen die Vertriebenen West-Deutschland, speziell Bayern, zu nachhaltigem Fortschritt. Ergo: „Präsident Beneš hat sich um den Staat verdient gemacht – um den Freistaat Bayern“.

(Preussische Allgemeine Zeitung)



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