Český a slovenský zahraniční časopis  
     
 

Červenec 2010


Das Trauma des Brünner Todesmarsches

Die Deutschen in der mährischen Hauptstadt müssen über Nacht die Heimat verlassen. Was dann in der Nacht zum 31. Mai 1945 beginnt, ist in die Geschichte als der „Brünner Todesmarsch“ eingegangen.

Im Mai vor 65 Jahren geht auch in Böhmen und Mähren der Zweite Weltkrieg endlich zu Ende. Die traumatisierten Überlebenden, Tschechen und Deutsche – die Juden waren bereits von den Nazis vernichtet worden – kriechen aus den Kellern. Man könnte nun an den Wiederaufbau gehen. Auch in Brünn (Brno) etwa, der Hauptstadt Mährens. Einheimische Tschechen sagen zu ihren deutschen Nachbarn: „Es wird alles wieder gut werden, jetzt sind endlich die Nazis fort, nun wird alles wieder wie früher!“ Viele Deutsche würden das nur allzu gern glauben.

Es wird aber täglich schlechter, die Deutschen werden entlassen, sie dürfen nur mehr manuelle Arbeit leisten, sie müssen ausnahmslos weiße Armbinden tragen (N = „Němec“ = „Deutscher“). Präsident Edvard Beneš besucht Brünn, es ist der Auftakt für das Kommende. In „Koleje“, einem ehemaligen tschechischen Studentenheim, das während der Nazi-Zeit der Gestapo als Gefängnis gedient hat, spricht Beneš zu Arbeitern und Studenten. Er ruft nach Rache, er entfacht in den Zuhörern einen Hass, der sich blind auch gegen Schuldlose richtet. Die Menge ist bereit zur Tat.

„Alle Deutschen raus!“

Was dann in der Nacht zum 31. Mai 1945 (Fronleichnam) beginnt, ist in die Geschichte als der „Brünner Todesmarsch“ eingegangen. Am späten Abend wird die Parole ausgegeben: „Všichni Němci ven!“ „Alle Deutschen raus!“ Trupps bewaffneter Arbeiter und Partisanen eilen von Haus zu Haus, die Gewehrkolben donnern an die Türen: „Packt das Wichtigste, ihr müsst fort! In zwei Stunden müsst ihr auf dem Hauptplatz gestellt sein. 15 Kilo Gepäck, mehr nicht!“ Es handelt sich vornehmlich um Frauen, Kinder und alte Menschen, wie die Augenzeugen berichten. Die wehrfähigen Männer sind noch nicht heimgekehrt oder gefallen oder in Kriegsgefangenschaft.

In der Morgendämmerung formierte sich ein Zug von 35.000 Menschen, der sich in Richtung Süden nach Österreich in Bewegung setzte. Alle paar Meter ein Posten, das Gewehr griffbereit, Kolbenschläge für die Erschöpften. Wegen eines Gewitters erreicht der Zug Pohrlitz (heute Pohořelice) mit nassen Kleidern, durstig und hungrig. Verseuchtes Wasser führt zu ersten Ruhrerkrankungen, Hunderte sterben, auch durch Misshandlungen. Wer sich nicht mehr weiterschleppen kann, wird am Ende des Zuges erschossen und in den Straßengraben gestoßen.

Augenzeuge Androsch

Am nächsten Abend erreicht man die österreichische Grenze, Bauern helfen, aber die Tausenden sind zu viel. Wieder sterben Hunderte, sie werden in Massengräbern entlang der Brünnerstraße bis Wien verscharrt. (Heuer, am 3. Juni 2010, wird die Sudetendeutsche Landsmannschaft die diversen Bestattungsorte aufsuchen.)

In Mähren, hart an der Grenze zu Niederösterreich, liegt Piesling (dnes Písečné - pozn. red. CS-magazínu), ein kleines Dorf. Dort, bei Verwandten, erlebt 1945 die Familie Hans und Lia Androsch mit dem kleinen Sohn Hannes Ähnliches. Bis zwölf Uhr mittags, erinnert sich der spätere Finanzminister und Vizekanzler, mussten alle deutschen und deutschstämmigen Bewohner ihr Dorf verlassen. Auch der Onkel und die Tante. „Sie gingen in ihrem schwarzen Sonntagsstaat. Zum Abschied sind sie niedergekniet und haben die Türschwelle geküsst.“ Mutter Lia Androsch stellte ihren Sechsjährigen zum Fenster und sagte: „Schau dir an, was hier passiert. Du darfst es dein ganzes Leben nicht vergessen.“

Ein Stachel im Fleisch der EU

Er hat es nicht vergessen. In Prag, in Brünn und anderswo im EU-Mitgliedsland Tschechien würde man diese Ruchlosigkeit zwar gerne „vergessen“, wären da nicht die Österreicher, die sich mit derlei Verbrechen nicht abfinden. Nur der tschechische Dichterpräsident Václav Havel war in seiner Amtszeit auf dem Hradschin fair genug, die Vertreibung von rund drei Millionen (deutschen) Bürgern aus ihrer angestammten Heimat als Schandfleck zu bezeichnen.

Als Bundespräsident Heinz Fischer heuer– ohnehin recht milde – von einem „schweren Unrecht“ sprach, zeigte sich der tschechische Senatspräsident Přemysl Sobotka „überrascht“, dass ein Spitzenpolitiker Österreichs noch heute „die Entscheidung der Weltmächte“ angreife, die Edvard Beneš doch nur umgesetzt habe.

„Menschliche Abschiebung“

Die Wahrheit sieht natürlich anders aus. Zwar stimmten die siegreichen Alliierten im Potsdamer Protokoll 1945 der Forderung der ČSR-Regierung Beneš zu, die deutsche Minderheit im Lande „ordentlich“ abzuschieben, doch von Enteignung, Vermögensentzug, Schaffung von Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern war im Potsdamer „Cecilienhof“ keine Rede.

Während dieser Konferenz der „Großen drei“ (Stalin, Truman, Attlee) vom 17. Juli bis 2. August war die gewaltsame Vertreibung der Deutschen schon fast abgeschlossen. Der Sowjetdiktator Stalin hatte also nicht ganz unrecht, als er meinte, es gäbe in Böhmen, Mähren, Schlesien und Ostdeutschland sowieso „nur mehr eine deutsche Restbevölkerung“, die Masse der Deutschen sei bereits nach Deutschland geflüchtet. So kamen alle Ermahnungen der Alliierten an den tschechoslowakischen Präsidenten Beneš zu spät.

„Es wird notwendig sein..., insbesondere kompromisslos die Deutschen in den tschechischen Ländern und die Ungarn in der Slowakei völlig zu liquidieren.“ (Beneš nach seiner Rückkehr aus dem Londoner Exil am 16.Mai 1945 vor einer begeisterten Menge auf dem Altstädter Ring in Prag)

Er hatte sein Ziel nach vielen Jahren „Vorarbeit“ erreicht. Denn schon 1938, als Hitler die Tschechoslowakei immer stärker bedrohte, schlug Beneš in einem internen Schreiben vor, Deutschland einen Teil des Sudetenlandes abzutreten (rund 5000 von 28.000 Quadratkilometern, also circa 18 Prozent) und gleichzeitig einen großen Teil der in der Tschechoslowakei verbleibenden deutschsprachigen Bevölkerung (nach Beneš' überschlägigen Berechnungen etwa 2,2 Millionen) zwangsweise auszusiedeln.

Im Londoner Exil während des Weltkrieges hatte Beneš weiter an der Rechtlosmachung der deutschen Mitbürger gearbeitet: Das „Kaschauer Programm“ vom 5. April 1945 legte dann die Basis für vier Präsidentendekrete – noch vor der Potsdamer Konferenz. Dabei ging es um die Ungültigkeit von Vermögensgeschäften, um Bestrafung und um die Konfiskation des Grundbesitzes. Mit einer Note vom 3. Juli ersuchte dann die tschechische Regierung die Alliierten um Aufnahme des Vertreibungsprogramms in die Tagesordnung von Potsdam. Da war die „wilde Vertreibung“ längst durchgeführt.

Das Massaker von Postelberg

Während das offizielle Tschechien zu den Verbrechen weiter schweigt, denkt die jüngere Generation weit europäischer. Am 6. Mai lief im tschechischen Fernsehen zur besten Sendezeit die Dokumentation „Töten auf tschechische Art“ von David Vondráček. Ein Amateurfilmer hatte im Mai 1945 Hinrichtungen in der Prager Siedlung Bořislavka aufgenommen. Zu sehen ist eine lange Reihe von über 40 Männern in Zivilkleidung. Die meisten, aber nicht alle, sollen Deutsche gewesen sein. Sie stehen am Straßenrand mit dem Rücken zur Kamera und fallen von Kugeln getroffen in den Graben. Anschließend zermalmt ein Lkw der Roten Armee die Körper.

Regisseur Vondráček verweist auch auf das bekannte Massaker an deutschen Zivilisten im nordböhmischen Postelberg (Postoloprty). Über 760 Männer zwischen 15 und 60 Jahren wurden hingerichtet: „Die Toten von Postelberg sind Teil des größten Massenmordes zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den Ereignissen im bosnischen Srebrenica 1995.“

Seit dem Mai 2005 steht ein Beneš-Denkmal gegenüber dem Prager Außenamt.

(Die Presse)



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