Český a slovenský zahraniční časopis  
     
 

Zaří 2010


Wir waren alle im Widerstand

Claudius Seidl

Und wieder jähren sich das Attentat und der Staatsstreich vom 20. Juli. Ein Gespräch mit dem Historiker Stephan Malinowski: über die Rolle des Adels beim Aufstieg der Nationalsozialisten, über echte und eingebildete Eliten - und die Frage, warum man immer auf der richtigen Seite war

Die Nazis waren Pack, die vornehmen Leute wollten damit nichts zu tun haben, der Adel war im Widerstand: Darauf scheint, verkürzt und zugespitzt, der herrschende Konsens hinauszulaufen.

Diese Vorstellung ist doppelt falsch. Die Nationalsozialisten verstanden sich als Avantgarde einer künftigen Volksgemeinschaft, woran zumindest eines richtig ist: alle Schichten waren in der NS-Bewegung vertreten. Und dass Adel gleichbedeutend wäre mit Reichtum, Bildung, Macht, das stimmte im 20. Jahrhundert längst nicht mehr; er sah sich nur so, auch wenn höchstens zwanzig bis dreißig Prozent wirklich über Reichtum und Macht verfügten.

Und die verabscheuten die Nazis?

Es ist komplizierter, weil der Adel eine sehr heterogene Schicht ist. Generell kann man aber sagen, dass Adel und Nationalsozialisten sich aufeinander zu bewegen. Das ist eine Geschichte, die lange vor 1933 beginnt.

Wo trifft man sich?

Es beginnt schon im Kaiserreich, bevor es den Nationalsozialismus überhaupt gibt. Die sogenannten völkischen Bewegungen und große Teile des Adels haben schon mal eines gemeinsam: den Antisemitismus. Dann, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Sturz der Monarchie, trifft man sich im militärischen Milieu. Und man trifft sich bei den Leuten, die Adolf Hitler beibringen, wie man ein Fischmesser benutzt und wann man Rotwein zum Essen bestellt

...den Bruckmanns, den Bechsteins, der Münchner Großbourgeoisie...

... die sich zum Adel aber hingezogen fühlte und ihn einlud in ihre Salons.

Was haben aber die Nazis zu bieten?

Sie haben gemeinsame Gegner, und der Feind meines Feindes ist mein Freund. Sie sind gegen die Republik, gegen den Sozialismus und die organisierte Arbeiterbewegung, sie mögen den modernen, urbanen Lebensstil nicht. Und sie haben etwas gegen die Juden.

Ist das schon alles?

Zum Ende der zwanziger Jahre hin identifiziert man gemeinsame Ziele: die Sprengung des Versailler Vertrags, den Ausbau der auf 200 000 Mann beschränkten Reichswehr, die ja traditionsgemäß die Versorgungsinstanz für die nachgeborenen Söhne war. Noch wichtiger waren vielleicht die sogenannten Fideikommisse, eine sehr preußische Besitzform, die die Zersplitterung des Großgrundbesitzes auf dem Weg der bürgerlichen Erbteilung verhindern sollten. Die Weimarer Reichsverfassung hatte diese Besitzform angegriffen, mit den Nationalsozialisten verband sich im Adel die Hoffnung, dass alles beim Alten bleiben würde.

Und diese Interessen waren stärker als der Abscheu vor diesen vulgären Leuten? Es gab ja auch einen starken egalitären Zug: Wenn wir unsere braunen Hemden tragen, gibt es keine Klassenunterschiede mehr.

Der Begriff Volksgenosse bedeutet strenggenommen: Jeder echte Deutsche ist gleich viel wert, und es gab Nazis, die das genau so sahen. Zugleich war aber das Gerede von der Volksgemeinschaft ein Schlaflied für die Massen. Natürlich gab es ein Oben und ein Unten. Die SS war ein attraktives Angebot für den Adel: schicke, schneidige Uniformen und die Verheißung, zur künftigen Elite zu gehören. Auch den dümmsten Adeligen war wohl klar, dass, anders als im 17. Jahrhundert, nicht mehr 0,8 Prozent den ganzen Rest des Volkes beherrschen konnten. Die Haltung war die: Wir sind nur noch ein Teil der herrschenden Elite, aber wir sind dabei. Wir sind im Staatsdienst, wir dominieren die Diplomatie, und im Offizierscorps werden wir weiter dominieren.

Spielte das Legitimitätsprinzip keine Rolle? Nach aristokratischen Kategorien war ein sogenannter Führer kein legitimer Herrscher.

Das ist ein Problem, das die ganze deutsche Rechte nach 1918 hatte: eine Monarchie ohne Prätendenten ist problematisch. Die Bayern hatten einen Kronprinzen, der als intelligent galt, deshalb hielt der bayerisch-katholische Adel der Monarchie die Treue. Aber in Preußen hatte man einen Kaiser, dessen Flucht nach Holland zu Recht als feige interpretiert wurde. Und statt eines starken Prätendenten gab es Söhne und Enkel, die untereinander stritten...

...und die Nazis hofierten.

Der vierte Sohn des Kaisers, August Wilhelm, genannt Auwi, geht so weit, dass er gar in die SA eintritt. Womit er den Nationalsozialisten einen wichtigen Prestigegewinn verschafft: Schaut her, wir sind tatsachlich eine echte Volksbewegung, in unseren Reihen marschiert der arbeitslose Eisenbieger neben dem Preußenprinzen. Es gab, gerade unter den älteren Mitgliedern des preußischen Adels, manche, die töricht genug waren zu glauben, Hitler werde den Kaiser wiederbringen. Und Hitler war lange klug genug, sie in diesem Glauben zu lassen.

Das alles klingt so, als ob jeder, der ein „von" im Namen hatte, damals zu den Nazis übergelaufen wäre. Heute, so klingt es jedenfalls durch alle Medien, sagt jeder: „Meine Familie stand in Verbindung zum Widerstand." Was stimmt da nicht?

Geschichte ist manchmal ein bisschen langweilig, weil auch einfache Fragen nur differenziert beantwortet werden können. Nein, nicht der ganze Adel ist zu den Nazis übergelaufen, es war aber ein unverhältnismäßig großer Teil, gerade des norddeutschen, des preußisch-protestantischen Adels. Die Behauptung, in unserer Familie gab es Widerstand, ist meistens genauso richtig. Die Erklärung ist die, dass die Familien sehr groß sind. Und dass sie Hunderte von Jahren Erfahrung in der Kulturtechnik der Selbstdarstellung haben. Es gibt immer einen in der Familie, der passt. 1933 konnte man sagen, unsere Familie war von Anfang an dabei, weil zwei nachgeborene Söhne schon 1925 der NSDAP beigetreten sind. Und nach 1945 lief es umgekehrt: Wir haben da einen Cousin, der hätte in den Klub fast mal einen Sprengsatz mitgebracht. Was für den Historiker immer schwer zu überprüfen ist.

Weshalb?

Aus demselben Grund, aus dem die Nazis den adeligen Widerstand nicht so leicht ausschalten konnten: Es ist ein vergleichsweise geschlossenes, kleines Milieu, und die Kommunikation verläuft informell, unstrukturiert, auf den verschlungenen Wegen von Familie und Verwandtschaft. Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschaftler und die Widerständler aus den Kirchen waren organisiert, und die Organisationen ließen sich zerschlagen. Den Adel als Organisations- und Kommunikationsform konnte man nicht zerschlagen, man traf sich, konspirativ, zum Tee, bei der Jagd, zum Ausritt.

Das klingt ja nach einer konspirativen Gruppe der Gegenwart: Adel Qaida?

Aus verschiedenen Gründen würden es sich die meisten Familien wohl verbitten, sich mit Al Qaida verglichen zu sehen. Wenn aber bedenkt, dass die Nazis nur zwei, drei Monate brauchten, die mächtigste und bestorganisierte Arbeiterbewegung Europas zu zerschlagen, dass sie es aber in zwölf Jahren nicht schafften, den Adel unter ihre Kontrolle zu bringen, dann ist der Vergleich in einem strukturellen Sinn vielleicht nur halb schief und nicht völlig daneben.

War der 20. Juli der Aufstand des Adels gegen den Nationalsozialismus?

Es war nur eine kleine Minderheit des Adels, die sich daran beteiligt hat - aber es war entscheidend, dass die meisten dieser Männer und Frauen dem Adel angehörten. Da waren, wie eben schon erwähnt, die Kommunikationsmöglichkeiten. Es war ein Aufstand von Leuten, die im Offizierskorps und im Staatsdienst ganz oben standen, und da war der Adelsanteil sehr hoch. Und es ging nicht nur darum, Hitler zu töten. Das hätte der Tischler Georg Elser fünf Jahre zuvor fast ganz alleine geschafft.

Es war nicht bloß ein Attentat, es war der Staatsstreich.

Genau. Und um den zu organisieren, braucht man Leute, die schon an bestimmten Positionen sind. Und das gehört heute, aus republikanischer Sicht gesehen, zu den Ruhmestiteln der deutschen Adelsgeschichte: dass eben doch so viele Frauen und Männer aktiv an den Planungen beteiligt waren.

Gibt es aber, angesichts der unrühmlichen Vorgeschichte, etwas, das grundsätzlich schiefgelaufen ist?

Es geht ja, spätestens nach der Französischen Revolution und dem Beginn der Industrialisierung, bergab mit dem Adel. Das gilt für die politische Macht, für den kulturellen Einfluss, es gilt vor allem aber auch für den Reichtum, der schwindet. Gerade der preußische Adel versucht aber, an einem Lebensstil festzuhalten, dem die ökonomische Grundlage immer mehr entzogen wird. Für die Erstgeborenen reicht es vielleicht noch, aber dann gibt es viele, die haben kein Abitur, keine anständige Ausbildung, die wandern ab in die großen Städte und bilden so eine Art Adelsproletariat. Sie verfügen über bescheidenste Mittel. Aber ihre Ansprüche bleiben maßlos.

War das in anderen Ländern anders?

Ja, der französische und der englische Adel reagieren ganz anders auf die Industriegesellschaft. Da schickt man die Söhne gezielt in die neuen, die bürgerlichen Herrschaftsberufe. Universität, Banken, Finanzen. Gerade in. Preußen war das ganz anders. Ein preußischer Adeliger konnte noch 1920 unter keinen Umständen Bankier sein.

Das klingt, als wäre der Adel für die bürgerliche Gesellschaft ein echtes Integrationsproblem gewesen. Fast wie heute die Migranten.

Mit dem Unterschied; dass Adlige bei den Bürgern etwas höher angesehen sind. Man stellt sich doch gleich ein Schloss vor, zwanzig Domestiken, zweihundert Pferde, man möchte selber so leben.

Ist das der Grund, warum Adlige heute, wenn sie in der Öffentlichkeit stehen oder gar in die Politik gehen, so hoch angesehen sind? Oder liegt es daran, dass man ihnen intuitiv zutraut, dass sie Zeiträume überblicken, die eben nicht nur bis zum nächsten Wahltermin reichen?

Klar, das Vorurteil geht so: Es ist nur ein Augenaufschlag der Weltgeschichte, schon wieder sind 15 Leute ausgetauscht, und die neuen Leute sind aber von den alten nicht zu unterscheiden. Und dann kommt einer wie Guttenberg, und sein Auftreten verspricht: Wir sind anders, wir sind

interessant.

Selbst unter Aufsteigern gibt es eine Skepsis gegenüber der Figur des Aufsteigers, dem man gerne zutraut; dass er seinem Aufstieg alle Grundsätze opfern wurde. Ein Freiherr als Minister, ein Graf als Vorstand einer Aktiengesellschaft - die sind nicht aufgestiegen, die waren ja schon oben. Und können sich schon deshalb Charakter leisten.

Das ist natürlich auch mir eine Legende, aber auch wenn sie nicht stimmt, ist sie doch schön erfunden. In jedem Herrschaftssystem ist der Parvenü eine unangenehme Figur. Der Streber, der Schleimer, der, der bis zehn Uhr abends an den Schularbeitenden sitzt. Und dann liest er noch Akten nächsten Tag. Der Adelige, der das angeblich nicht nötig hat, ist das Gegenmodell. Dieses Bild der Souverenität, der Charakterfestigkeit, das Bild vom Adeligen, der einen Wald kauft, von dessen Erträgen erst seine Enkel profitieren werden: Das alles ist vermutlich zu neunzig Prozent nichts als Legende. Aber es ist zugleich so schön und stimmig, dass es nicht nur vom Adel selbst gerne verwendet und verbreitet wird. Auch das bürgerliche Publikum glaubt gerne daran. Woraus man ihm keinen Vorwurf machen sollte.

Stephan Malinowski, 1966 geboren, ist Historiker. 2004 legte er seine Dissertation vor: „Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich, und NS-Staat". Zurzeit lehrt er Geschichte in Dublin.

(SZ)



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