Český a slovenský zahraniční časopis  
     
 

Říjen 2010


Immer noch leben Täter

Wolf Oschlies

Nach 65 Jahren des Verdrängens und – oft genug – des selbstgerechten Schwadronierens über die eigene Opferrolle hat in der Tschechischen Republik die Aufklärung von Verbrechen an den Sudetendeutschen begonnen. Mutige Einzelne treiben die Aufarbeitung voran, denn das Umdenken steht vielfach erst am Anfang.

Tschechische Arbeiter drücken sich mitunter drastisch aus, vor allem wenn sie „eiserne Kommunisten“ wie der ehemalige Traktorist Václav Sláma sind: „Deutsche waren doch Scheißhäuser, sie hatten ihren Tod verdient.“ Slama hatte um 1980 bei Drainagearbeiten im südmährischen Dobrenz (Dobronín) bei Iglau menschliche Knochen freigelegt – stumme Zeugen eines Massenmords, der am 19. Mai 1945 geschah, doch mit dem man sich in dem Dorf bis vor kurzem nicht befassen wollte.

Im Dobrenzer Dorfgasthof „Bei Polzer“ gab es 1945 ein Tanzvergnügen, erstmals seit Kriegsende, exklusiv für Tschechen, während die Deutschen der „Iglauer Sprachinsel“ in Sammellagern auf ihren Transport zur Vertreibung warteten. Für ihre Bewachung waren die „Revolutionären Garden“ zuständig, Banden räuberischer Lumpenproleten, selbst von Tschechen verächtlich „zlatokopové“ (Goldgräber) genannt. „Gardisten“ waren häufig jene, die durch betonte Brutalität ihre vorherige Kollaboration mit dem NS-Regime kompensieren wollten. Als oberster Gardist wirkte in Dobrenz der Österreicher Robert Kautzinger (1901–1974), der mit seinen Söhnen Robert und Rudolf sowie neun weiteren Kumpanen die Region terrorisierte. An jenem 19. Mai wählten sie 17 Deutsche aus, töteten zwei sofort, ließen 15 ihre eigenen Gräber ausheben und brachten sie dann ebenfalls um. Danach feierten die Mörder bei „Polzer“ weiter und brüsteten sich ihrer Tat, die dem Kautzinger-Trio später Anstellungen beim tschechischen Staatssicherheitsdienst eintrug (respektive dieser zumindest nicht entgegenstand). Sohn Robert lebt noch, kann sich aber „an nichts erinnern“. In den USA oder Kanada soll mit Stefan Bobek ein weiterer Dobrenz-Mörder leben. Der kommunistische Bürgermeister Jiří Vlach will „auf keinen Fall die Dinge wieder ans Licht ziehen, wie es heute Mode ist, wo doch unter die Vergangenheit ein dicker Strich gehört“.

Wohl selten ist ein Verbrechen so allgemein verschwiegen worden, dabei so allgemein bekannt gewesen wie diese Morde. Bei den Mördern war der Glasarbeiter Budín, der einem Opfer mit dem Spaten den Schädel spaltete. Nach ihm wurde der Tatort, eine Wiesensenke zwischen Dobrenz und Bergersdorf (Kamenná), im Volksmund „Budínka“ genannt. Zeugen konnten auf der 80 mal 800 Meter großen Budínka die Stelle bezeichnen, an welcher Knochen zu finden waren. 1947 hatte es erfolglose Versuche gerichtlicher Aufklärung gegeben. Nach 1960 folgten Untersuchungen des Internationalen Roten Kreuzes, 1980 Slámas Knochenfunde, ab 1989 erste Gedenkveranstaltungen Vertriebener vor Ort, wobei Kränze und Kreuze stets von anonymen Tschechen, mutmaßlichen Tatbeteiligten, über Nacht zerstört wurden. Erst in den frühen 1990er Jahren gelang es, in den Klöstern Seelenz (Zdírec) und Schlappenz (Šlapanov) zweisprachige Gedenktafeln mit bewusst zurückhaltendem Text anzubringen.

Bis zum letzten Kriegstag lebten die rund 15 000 Deutschen der Iglauer Sprachinsel in Eintracht mit ihren tschechischen Nachbarn. was aber 1945 Mord und Vertreibung nicht verhinderte. Vergessen machte sich breit, zumal in heimischen Archiven kein Hinweis auf tschechische Untaten war. Die fanden sich 2001 in einer Dokumentation des Deutschen Fritz Hawelka und 2003 in dem Roman „Bergersdorf“ von Herma Kennel. Diese Hinweise griff der Journalist Miroslav Mareš vom „Iglauer Tageblatt“ auf, und 2009 erstatteten er und Herma Kennel Anzeige gegen Unbekannt.

Anders als sonst in der Tschechischen Republik begannen daraufhin kriminalistische Aktivitäten, die ab Januar 2010 die regionale Polizei unter Michal Laška intensivierte. Das Verdienst daran schrieb sich zu Recht das „Tageblatt“ zu, denn es habe mit seinen Berichten „Jahrzehnte der Verdächtigungen und Zweifel beendet“. Am Morgen des 16. August begannen die Arbeiten mit Baggern, Sonden und Geo-Radar, bereits zu Mittag fand man erste Knochen- und Kleidungsreste von mindesten sechs Personen. Weitere sollen folgen und DNA-Tests baldige Aufklärung bringen.

Seit dem 18. August steht auf der Budínka bei Dobrenz ein drei Meter hohes Kreuz, von Einwohnern aufgestellt. Dobrenz ist kein Einzelfall, vielmehr besteht, so Kriminalist Laška, ein starkes Interesse, „die weißen Flecken in unserer Geschichte zu füllen“.

Dem Politologen Bohumil Doležal erscheint seine Heimat als Geisterort, in den allnächtlich mehr Tote zurückkehren, um zu warnen: Morde können verjähren – Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht! Luděk Navara, ein auf die Vertreibungen spezialisierter dokumentarischer Autor, meinte lakonisch: Das ganze Ausmaß der damaligen Massentötungen kennen die heutigen Tschechen nicht einmal annähernd. Dutzende Schreckensorte vermutet das Tschechische Fernsehen neben den schon bekannten: Postelberg (Postoloprty) Juni 1945: mindestens 763 Deutsche erschossen, Aussig (Ústí nad Labem) 31. Juli 1945: Pogrom an Deutschen mit mindestens 100 Opfern, Prag-Bořislavka 10. Mai 1945: Erschießungen und Niederrollen durch Lkw von zirka 40 Deutschen, Prerau 19. Juni: Erschießung von 265 deutschen Zivilisten, ähnliche Massaker in Brünn, Olmütz, Pilsen, Rakonitz, Mährisch Ostrau, Budweis, Nachod, Landskron usw. Eines der vielen Massaker von Prag wurde von dem Regisseur David Vondráček in dem Film „Zabíjení po česku“ (Tötung auf Tschechisch) verarbeitet und eindeutig kommentiert: Solche Taten „sind Teil des größten Massenmordens zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Ereignissen im bosnischen Srebrenica 1995“.

(www.ostpreussen.de/zeitung)



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