Český a slovenský zahraniční časopis  
     
 

Březen 2011


Tschechien: „Das schändlichste Kapitel unserer Geschichte“

Hans-Jörg Schmidt

Der 65. Jahrestag des Beginns der organisierten Vertreibung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei ist in Prag dieser Tage nur ein Randthema. Und wer daran erinnert, wird rasch gescholten.

Ende Jänner 1946 trifft in Furth im Wald in der Oberpfalz (Bayern) ein Zug mit etwa 1200 Sudetendeutschen ein. Es ist der erste Zug mit Menschen, die organisiert die Tschechoslowakei verlassen mussten. Nach Monaten des Wütens „Roter Garden“ (die Tschechen selbst nennen sie bis heute „Raubgarden“) läuft so die Vertreibung der Sudetendeutschen an, jetzt mit Rückendeckung der Alliierten. Am Ende verlieren fast drei Millionen ihre Heimat. Damit endet das Kapitel des fast tausendjährigen Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen auf einem gemeinsamen Territorium.

Am heutigen Tschechien ging dieser Jahrestag fast geräuschlos vorbei. Das erstaunt, sind die Prager Medien doch voll mit schlimmen Geschichten von Mord und Totschlag in der Zeit der Vertreibung. Ständig werden Gräber gefunden, in denen getötete Deutsche verscharrt wurden. Zuletzt hat der öffentlich-rechtliche Hörfunksender „Radiožurnál“ Recherchen über ein Massaker bei Podersam, dem heutigen Podbořany, im Saazer-Land angestellt: Am 7. Juni 1945 waren dort 68 Sudetendeutsche getötet worden, aus Rache für die Untaten der Nazibesatzer Böhmens und Mährens. Eine Zeitung sagte voraus, dass man noch hunderte Massengräber mit Deutschen finden werde.

„Sag mir, wo die Toten sind“

Der TV-Journalist David Vondráček beendet gerade die Arbeiten an einem Film zu dem Thema. „Sag mir, wo die Toten sind“ soll er heißen. Sein erster Film dazu, „Töten auf Tschechisch“, brachte ihm in Deutschland einen Preis ein, in seiner Heimat aber wüste Kritik: Die Vorsitzende des „Verbandes der Freiheitskämpfer“, Anděla Dvořáková, etwa warf ihm „Zersetzung“ vor. Seinen Kritikern geht die vermeintliche „Einseitigkeit“ der Geschichtsaufarbeitung gegen den Strich. Auch Präsident Václav Klaus äußerte jüngst die Sorge, dass die den Massakern vorangegangenen ungleich schlimmeren Taten der Nazis vergessen würden. Ein tschechischer EU-Abgeordneter meinte, dass es ohne die deutsche Okkupation und ohne die „Heydrichiade“ (die Ermordung tausender Tschechen nach dem Anschlag auf den NS-Statthalter Reinhard Heydrich im Juni 1942) auf tschechischem Gebiet schließlich keine deutschen Massengräber gäbe.

Auch manchen Zeitungen geht die Aufarbeitung der tschechischen Rache zu weit; überraschenderweise auch der konservativen „Lidové noviny“, die klagt, dass deutsche und österreichische Medien die tschechischen Nachkriegsereignisse ausschlachteten, um die weit größere deutsche Schuld zu relativieren. Nebenbei bemerkt gehört das angesehene Blatt, wie auch andere in Tschechien, einem deutschen Verlag. Für Kritiker macht es das verdächtig, deutschfreundlich zu sein.

Vermutlich um fruchtlose Debatten in der eigenen Redaktion zu meiden, suchte sich der renommierte Kommentator der Lidové noviny, Luboš Palata, die führende slowakische Tageszeitung „Sme“ aus, um einen langen Beitrag zum 65. Jahrestag der Vertreibung veröffentlichen zu können, die er „das schändlichste Kapitel der jüngeren tschechischen Geschichte“ nennt.

Die Slowaken haben tatsächlich ein unverkrampfteres Verhältnis zu „ihren“ Deutschen, den Karpatendeutschen: Das slowakische Parlament hat sich schon vor 20 Jahren für das Unrecht an ihnen entschuldigt und dabei den Verlust der kulturellen Mannigfaltigkeit der Slowakei durch die Vertreibungen bedauert.

Das Schweigen der Tschechen

In besagtem Beitrag geht Palata genau auf diese Frage ein: Die Frage, ob die Vertreibung nötig war und welche Folgen sie für Tschechien hatte. „Womöglich sind wir noch immer nicht bereit, die Antwort auf diese Frage zu suchen. Und daher herrscht in Tschechien in diesen Tagen auch so eine Stille“, schreibt er. Sein Beitrag in einer slowakischen Zeitung war dieser Tage der einzige eines Tschechen zu dem Thema.

(Die Presse)



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