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Červen 2011


"Nicht eine ganze Generation verdammen"

Der US-amerikanische Völkerrechtler und Historiker Alfred de Zayas gehört seit Jahrzehnten zu den profiliertesten Autoren zu den Themenbereichen europäische Vertreibung, Kriegsverbrechen und Völkermord. Im Interview mit der Preussischen Allgemeinen Zeitung (PAZ) spricht der langjährige Mitarbeiter der UN-Menschenrechtskommission über neueste Forschungserkenntnisse, wissenschaftliche Ethik und den im Verborgenen vollzogenen Völkermord.

PAZ: Sie haben kürzlich ein Buch veröffentlicht „Völkermord als Staatsgeheimnis“ (rezensiert in der PAZ). Was meinen Sie mit diesem Titel?

De Zayas: Über Völkermord liegen viele Studien vor. Es ist an der Zeit, die Diskussion auf die Frage des Wissens zu lenken und auf die Implikationen der Mechanismen der Geheimhaltung und der Verleugnung. In totalitären Staaten wissen meistens nur wenige, was wirklich geschieht.

PAZ: Warum interessiert sich ein US-Amerikaner für dieses unbequeme Thema?

De Zayas: Wenn man die Mechanismen des Völkermords verstehen will, muss man die Fallstudien individuell untersuchen und feststellen, wer Befehlsgewalt ausübte, wer gehorcht hat, wer gewusst hat, wer geschwiegen hat. Jeder Amerikaner weiß heute über den Holocaust Bescheid. Unsere High Schools und Colleges geben Kurse und Seminare zu diesem Thema. Romane, Theaterstücke, Fernseh-Miniserien und bedeutende Hollywood-Filme beschäftigen sich mit der Shoah. Nun, jeder, der den Holocaust studiert, fragt sich, was der Durchschnittsdeutsche seinerzeit über den Holocaust wusste. Wie viel hat er erfahren und wann, was hat er geglaubt, was hat er getan, was hätte er konkret tun können? Diese Fragen ergeben sich ganz automatisch, wenn man die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens erkennt. Bisher aber sind die von Historikern gelieferten Antworten verallgemeinernd, unvollständig und z.T. faktisch falsch, vor allem bezüglich des Wissens bei der deutschen Bevölkerung und den vielen Ausdrucksformen des deutschen Widerstands gegen Hitler.

PAZ: Wieso falsch?

De Zayas: Viele Darstellungen leiden an Anachronismen, sie deuten die Hitler-Vergangenheit nach dem Wissensstand unserer Gegenwart, vereinfachen, pauschalisieren, und oft sind sie überspitzt und sogar hämisch.

PAZ: Was haben sie aus den Archiven erfahren?

De Zayas: Eins ist mir schnell klar geworden: Geheimhaltung war oberstes Gebot. Das Weitergeben von Informationen und das Nachfragen war praktisch unmöglich oder jedenfalls sehr gefährlich. Hinzu kamen die Verwendung einer Tarnsprache, die Überwachung der Gerüchte durch die Gestapo und offizielle Dementis. Außerdem mussten alle Personen, die direkt etwas mit der Judenvernichtung zu tun hatten, absolutes Schweigen schwören.

PAZ: Was bringt Ihr Buch eigentlich Neues?

De Zayas: Neben vielen neuen oder wenig bekannten Dokumenten auf jeden Fall die Perspektive. Keiner hat bisher die Geheimhaltung so systematisch untersucht. Keiner hat bisher so deutlich gezeigt, dass sich keine Regierung der Welt mit der Schande eines Völkermordes besudeln will. So war der Genozid gegen die Armenier geheim, und die Befehle von Talaat Pascha und Enver Pascha waren nicht ohne Grund chiffriert. Katyn und die anderen Stalin-Morde waren nicht publik. Und man hat jahrzehntelang versucht – auch im Nürnberger Prozess – den Mord an den polnischen Offizieren den Deutschen in die Schuhe zu schieben.

PAZ: Wie beurteilen Sie die Forschungsergebnisse ihrer Historikerkollegen?

De Zayas: Hier und da bringen sie wenig bekannte Dokumente zutage. Hier und da formulieren sie interessante Einsichten. Aber, was die Frage des Wissens über den Holocaust, und was ihre penetranten Schuldzuweisungen betrifft, finde ich ihren Ansatz falsch und ihre Methodik merkwürdig unhistorisch. Sie argumentieren anachronistisch, moralisierend, verkennen viele Zusammenhänge, ignorieren zentrale Dokumente über die Geheimhaltung und lassen etliche Nürnberger Akten, die ihre Thesen widerlegen, beiseite. Kurz: sie schreiben voreingenommen und betreiben eine undifferenzierte Geschichtsbetrachtung, eine Schwarz-Weiß-Malerei.

PAZ: Was haben andere Historiker konkret falsch gemacht?

De Zayas: Viele haben Urteile gefällt, die von den Akten einfach nicht getragen werden. Aus unzureichenden Mosaiksteinen konstruieren sie ein ganzes Bild, das eben eine Extrapolation ist, und nachweislich falsch.

PAZ: Warum schreiben deutsche Historiker so negativ über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges?

De Zayas: Als Amerikaner muss ich immer daran denken, dass die Deutschen nicht einen, sondern zwei Kriege verloren haben. Aber es geht nicht nur um die militärischen Niederlagen, sondern vor allem um die Schande der Verbrechen, die im deutschen Namen begangen wurden. Ich kann durchaus verstehen, dass einem Deutschen dies weh tut und eine geistige Belastung darstellt. Aber Historiker müssen fähig sein, die Geschichte ohne Komplexe und ohne Ressentiments zu erforschen. Was mich eigentlich irritiert, ist, dass manche deutschen Historiker anscheinend eine Obsession mit den NS-Verbrechen haben, und dies verblendet sie. Da scheint auch eine pseudo-moralische Komponente mit im Spiel zu sein, die ich nicht recht verstehe. Man kann sich auf die eigene Brust schlagen und sich schämen für das, was man getan hat oder eben nicht getan hat. Aber auf die Brust der Eltern bzw. Großeltern zu schlagen, das halte ich für verkehrt, eigentlich für obszön.

PAZ: Wollen Sie die Kriegsgeneration etwa entlasten?

De Zayas: Nein, ich will nur wissen, wie es eigentlich war, unter welchem Gestapo-Terror der Durchschnittsbürger lebte, wie er sich gefühlt, was und wann er tatsächlich von der „Endlösung der Judenfrage“ gehört, was er getan hat, was er hätte er tun können. Mich stört, eine ganze Generation zu verdammen, nur weil sie diese unglückseligen Jahre durchlebt hat. Zweifelsohne sollten die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden, und die Geschichte sollte die Verwerflichkeit der Verbrechen dokumentieren. Aber eine pauschale Verurteilung der ganzen Kriegsgeneration stellt eine vulgäre Ungerechtigkeit gegenüber 95 Prozent der Bevölkerung dar.

PAZ: Wie erklären Sie sich die Ungeheuerlichkeit des Völkermordes?

De Zayas: Mitten im Krieg passieren fürchterliche Sachen. Es gab eine ungeheure Radikalisierung. Hinzu kam die Geheimhaltung. Lesen sie einmal die geheime Rede Heinrich Himmlers vom 4. Oktober 1943 in Posen. Da redet er von einem „niemals geschriebenen und niemals zu schreibenden Ruhmesblatt“ der Geschichte Deutschlands. Verrückt. Aber so ist der Fanatismus. Und der Völkermord blieb 95 Prozent der deutschen Bevölkerung verborgen. Es gab ja kein „Wikileaks“.

PAZ: Sie haben sich bereits mit anderen Fragen der deutschen Zeitgeschichte beschäftigt. Wieso?

De Zayas: In der Tat. Als ich Geschichte und Jura in Harvard studierte, entdeckte ich die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges – ein Thema, das seinerzeit total tabu war. Die Deutschen als Opfer? Keinesfalls. Nicht möglich – und doch. Es war ein Verbrechen gegen die Menschheit, und ich fragte mich, weshalb sollte dieses Verbrechen verschwiegen werden? Darum schrieb ich mein erstes Buch „Die Nemesis von Potsdam“ und dann „Anmerkungen zur Vertreibung“.

PAZ: Wie war die wissenschaftliche Aufnahme ihrer Bücher?

De Zayas: Eigentlich besser, als ich befürchtet hatte, obwohl es seinerzeit eine sehr tabuisierte Thematik war.

PAZ: Manche deutschen Historiker haben ihre Bücher negativ rezensiert. Was sagen Sie dazu?

De Zayas: Eigentlich war es eine kleine Minderheit. 90 Prozent der Rezensionen waren positiv – sowohl in Deutschland als auch in Amerika.

PAZ: Was monieren die Kritiker?

De Zayas: Keine Fakten, also keine Fehler meinerseits. Die Kritiker können sich einfach mit meinen Schlussfolgerungen nicht anfreunden. Dann versuchen Sie, meine Methodik anzugreifen. Man wirft mir z.B. vor, die deutschen Verbrechen auszuklammern. Dies tue ich keinesfalls. Ich habe nicht umsonst den Buchtitel „Nemesis“ gewählt – Nemesis ist die griechische Göttin der Rache – denn es geht um Strafe für NS-Verbrechen, unschuldige Opfer, an denen die NS-Verbrechen gerächt wurden. In meinem Buch über die Wehrmachtuntersuchungsstelle (WUSt) findet man viele Erwähnungen von NS-Verbrechen, aber meine Forschung galt vor allem der Behördengeschichte der WUSt und deren Ermittlungen zu Verbrechen in Bromberg, Broniki, Feodosia, Grischino, Lemberg und Katyn. Diese Verbrechen geschahen eben und werden nicht durch NS-Verbrechen erledigt oder relativiert.

PAZ: In Ihrem neuen Buch sprechen Sie über die menschenrechtlichen Aspekte der Geschichtsschreibung, was meinen Sie damit?

De Zayas: Ich meine, dass Historiker eine besondere Verantwortung haben, keine pauschalen Urteile abzugeben, keine Karikaturen, Stereotype oder Verallgemeinerungen zu schaffen, die dazu führen könnten, z.B. eine ganze Generation von Menschen zu verleumden.

PAZ: Was würden Sie Ihren Lesern empfehlen?

De Zayas: 66 Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges sollten die Deutschen sich von den Dämonen dieses Krieges endlich befreien. Sie sollten versuchen, sich in die Situation der Kriegsgeneration zu versetzen, um zu begreifen, wie es eigentlich gewesen war, was es bedeutete, in einem totalitärem Staat zu leben, ohne Presse- und Meinungsfreiheit, mit der Bedrohung des Nazi-Terrors und des Bombenterrors.

PAZ: Die Organisation „Canadians for Genocide Education“ hat Ihnen Ende März an der Universität von Toronto den „Educators Award 2011“ verliehen. Was bedeutet diese Ehrung?

De Zayas: Es handelt sich um einen Zusammenschluss von 53 Organisationen kanadischer Lehrer- und Bürgervereinigungen, die u.a. Armenier, Bosnier, Ukrainer, Juden, Serben, Deutsche und viele andere Vertriebene vertreten und über ihr Schicksal informieren. Da ich oft über diese „Opfer des Schweigens“ berichtet habe, habe ich das Gefühl, dass sich die Arbeit gelohnt hat. Schließlich geht es um die Rechte der Opfer und man muss aller mit Ehrfurcht gedenken.

(www.germanworldalliance.org/index.html)



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