Český a slovenský zahraniční časopis  
     
 

Červen 2011


Die Geburt eines Nationalisten

Dirk Schümer

„Neue Menschlichkeit“ verkündete er 1945, daraus wurde die Vertreibung der „odsun“, der Sudetendeutschen. Jiří Gruša stürzt nun mit einer polemischen Biographie Edvard Beneš vom Sockel.

Tschechien ehrt den Staatsmann, der zweimal Präsident der Tschechoslowakei war, mit einem Standbild vor dem Außenministerium in Prag. Kennt das Volk heroischer Humanisten und tapferer Glaubenskämpfer wie Jan Hus wirklich keine besseren Helden? In Prags herrlicher Altstadt wirkt dieser Beneš, der im Mai 1945 per Dekret mehr als zwei Millionen Deutsche vertreiben ließ, wie ein Relikt aus kommunistischer Zeit. Schließlich hatte Beneš die Sowjetunion als Verbündeten der Tschechen schon 1938 ins Spiel gebracht, kehrte 1945 mit russischen Truppen im Triumph von Osten ins Vaterland zurück und ermöglichte im Februar 1948 die Machtübernahme der Kommunisten. Bald danach war Beneš, die zwiespältigste Figur der jüngeren Geschichte des Landes, tot. Doch die Kommunisten, deren Partei er nie angehörte, ehrten ihn bewusst nicht. Erst 2005 bekam der Vater der Tschechoslowakei sein Denkmal, als wollte die neue politische Elite den Urheber der Vertreibung endlich belobigen.

Wenn Jiří Gruša, der nach 1989 für die junge tschechische Demokratie als Botschafter und Schulminister wirkte, bevor er Präsident des internationalen PEN-Clubs wurde, nun Beneš eine Biographie widmet, sticht er damit ganz bewusst in eine Wunde. In Brünn und Prag, vorher noch in Wien stellte Gruša am Wochenende seinen Essay „Beneš jako Rakušan“ (Beneš als Österreicher) vor. Und beim Gespräch über das auf Deutsch noch nicht erschienene Werk zeigt sich, dass der einstige Dissident sich auf die vorhersehbaren Fehden freut: „Ich habe schon Hass-Mails bekommen: und zwar sowohl von sudetendeutschen Funktionären wie auch von Tschechen, die mich als ,Georg Gruschka‘ beschimpfen. Das Buch kann also nicht schlecht sein.“

In der Tat macht Gruša keinen Hehl daraus, dass er den einflussreichsten und verhängnisvollsten Politiker in der jüngeren Geschichte seines Landes nicht ausstehen kann. Nicht einmal als Person, gegen deren beamtenhaften Habitus, deren „weinerliche Stimme“ der Autor munter vom Leder zieht. Gruša möchte mit seinem Buch das „Ende der Legitimation von Beneš“ herbeischreiben: „Meine Landsleute mögen ihn zwar nicht sonderlich, aber das mit der Vertreibung - denken viele - das war gar nicht übel.“

Um beim „odsun“, der oft brutalen Aussiedlung der deutschen Minderheit, anzukommen, holt der Autor weit aus und erklärt dabei seinen befremdlichen Buchtitel: Mit dem deutschen Taufnamen „Eduard“ ist dieser Nationalist Beneš nicht nur als Untertan der Habsburgermonarchie zur Welt gekommen. Noch nach seinem Studium in Frankreich verteidigte er jenen Vielvölkerstaat, den Gruša als „ÖU“ ironisiert. Aus der „ergiebigen Kloake des mitteleuropäischen Nationalismus“ erstand in Böhmen 1895 die erste nationalsozialistische Partei der Welt - exklusiv für Tschechen, die dem Internationalismus der Sozialdemokratie abschwören wollten. Hitler hätte also, so Gruša, eigentlich Tantiemen nach Prag überweisen müssen. Für diese rabiate, allerdings niemals rassistische Partei des „národní socialismus“ wurde Benes erst Außenminister, dann 1935 Präsident der Nation, die er sich mit anderen Politikern im Pariser Exil des Ersten Weltkrieges ausgedacht hatte: Tschechoslowakei.

Gruša genießt die Dekonstruktion von Gewissheiten: Der erste Verlobte von Mutter Beneš war ein Mann namens Huber, erst der erfolgreichere Bräutigam habe dem Land also einen weiteren sudetendeutschen Anführer erspart. Umgekehrt hörte, wie sollte es anders sein, die Mutter des nationalsozialistischen Sudetenführers Henlein auf den Namen Dvořáčková. Und hatte nicht auch Hitler, als Österreicher geboren im böhmisch-bayrischen Grenzland, ein Identitätsproblem mit allerhand tschechischer Verwandtschaft? Für Gruša heißt der Mann, der bei Nürnberger Parteitagen gegen „den Herrn Peenesch“ in Richtung Prag wetterte, deshalb auch „Hydl“ oder „Hydla“. Dass die tschechische Nationalautorin Božena Němcová eigentlich Barbara Pankl hieß und aus Wien kam, dass der Gründervater der Tschechoslowakei, Tomáš Garrigue Masaryk, Sohn eines slowakischen Knechts, an dessen Vaterschaft zweifeln musste und nie richtig Tschechisch sprach - solche Widersprüche, die das zwanzigste Jahrhundert blutig wegwischte, hätten auch die kulturelle Stärke Mitteleuropas ausmachen können.

Die unlösbare Verschlingung von Slawischem und Germanischem im „Bermuda-Dreieck Europas zwischen Wien, München und Prag“ wollten die habsburgischen Generationsgenossen Hydl und Beneš gewaltsam auflösen, der Erste als irrer Massenmörder, der Zweite immerhin noch als bürokratischer Umsiedlungsinspektor. Während Gruša natürlich an Hitlers und Heydrichs Untermenschenidee kein gutes Haar lässt, zieht er beunruhigende Parallelen zu Beneš, der ohne jede Legitimation mit der Roten Armee nach Prag kommt und am 18. Mai 1945 bei einer Rede auf dem Altstädter Ring die „neue Menschlichkeit“ verkündet: Beim „Herausliquidieren“ der Deutschen, beim schonungslosen „Entgermanisieren“, so Gruša, erweise sich Benes wie so oft als gelehriger Schüler der Macht: „Dieser tschechische Messianismus trägt deutsche Züge.“

Der typische Sekretär Beneš, so legt der Autor im Gespräch nach, habe eben niemals gekämpft, sondern immer kapituliert: im Ersten Weltkrieg als Sachwalter Frankreichs im Exil, nach dem Münchner Abkommen auf Hitlers Druck und 1948 als feiger Präsident unter der Knute der Sowjets. Während ihm seine Zeitgenossen die Rückgratbrüche nie verziehen, während ausgerechnet Goebbels 1943 in Prag einen Essayband mit antibritischen Texten von Beneš - er befand sich da im Londoner Exil - herausgeben konnte, soll dieser Mann nun das demokratische Tschechien repräsentieren? Jiří Gruša, der heute mit seiner deutschen Frau bei Bonn lebt, neuerdings sogar auf Deutsch schreibt und sich als Postnationalist in bester böhmischer Tradition betrachtet, möchte sein Land vor einer solchen Symbolfigur bewahren.

Immerhin rechnet er bei der jüngeren Generation mit einiger Zustimmung. Schließlich wurden die Grausamkeiten des „odsun“ zuletzt in zwei vielbeachteten Romanen thematisiert, Radka Denemarkovás „Geld von Hitler“ sowie Kateřina Tučkovás halbdokumentarischer „Vertreibung der Gerta Schnirch“. Auch der Film „Habermanns Mühle“ des Auschwitz-Überlebenden Juraj Herz führte den Tschechen jüngst die Monstrosität vor, dass 1945 sogar Juden, die den deutschen Mördern entkommen waren, nun plötzlich von tschechischen Kollaborateuren als Nazis aus ihrer Heimat gejagt wurden.

Am moralischen Nullpunkt 1945 waren die von Gruša bewunderten „kommunizierenden Röhren zwischen Wien und Prag“ zertrümmert. Die habsburgischen Brachialpolitiker Hydla und Beneš waren in Prag vor- und nacheinander dreimal an der Macht gewesen und überließen eine der führenden Industrienationen der Welt den kommunistischen Arbeitslagern und der Armut. Dass es den vertriebenen Sudetendeutschen in Deutschland - das Mutterland Österreich nahm sie nicht auf - am Ende wirtschaftlich viel besserging, wertet Gruša als weitere Volte im schlimmen Erbe von Beneš.

Sollte dieser unselige Mann von seinem Sockel gestürzt werden? Jiří Gruša, der erklärte Verehrer Schweijks, findet das nicht einmal erforderlich. Eine kleine Hinweistafel an die notorischen Kapitulationen dieses Mannes genüge vollauf. „Ich habe“, sagt der Autor mit gespielter Müdigkeit, „schon zu oft erlebt, wie Denkmäler umgewidmet, abgebaut, umgestürzt wurden. Ordnen wir Beneš ein bei den Gartenzwergen der europäischen Geschichte. Da ist er in guter Gesellschaft.“

(FAZ)



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